Emmanuelle Rapin. ,unsere Schwelle, bitte nicht berühren,
14.09.22 - 29.10.22

Emmanuelle Rapin
,unsere Schwelle, bitte nicht berühren,

14.09.22 – 29.10.22
Hier: Ausstellungskatalog

Das lustvolle Dazwischen
Wie von Hand bestickt aber mit Nagel archaisch gestochen, das Wort SEUIL erscheint auf einem anthrazitfarbenen Baustein aus Beton. SEUIL bedeutet auf Französisch Übergang, Schwelle, ruft aber auch die Vorstellung der Grenze sowie die Vorfreude des Aufbruchs auf. Der Umriss der fünf großgeschriebenen Buchstaben besteht aus von Hand in den Beton gehauenen Perforationen: eine Botschaft, eine Einladung, eine Warnung und auch ein tatsächliches Gravitationsexperiment. Als Pünktchen über dem „I“ gilt ein präzis gebohrtes Loch, durch das ein Faden aus elegantem grünen Perl-Baumwollgarn gezogen wird. Der schmale, kreisrunde Weg durch den harten Stein bildet die geheimnisvolle Passage zwischen dem Fadenknäuel und der wie vom „I“ heruntergepurzelten Bleikugel. Das am Ende des Fadens festgemachte Gewicht sorgt für eine anachronistisch-fragile und doch robuste Spannung. Die Länge des Fadens sowie die Position der Garnrolle sind variabel, je nachdem wie die Arbeit aufgestellt ist.

Bedeutung und Andeutung der Materialien sowie ihrer intensiven Beziehung fließen ineinander. Ich denke an den magischen Faden der Ariadne, der es ermöglicht den Ausgang aus den Irrgängen des Labyrinths zu finden und letztendlich die Eintracht zwischen Seele und Geist versinnbildlicht. Ich denke an die Toxizität des Bleis, ohne dessen Schwere die stramme Kraft des Fadens nicht sichtbar wäre – ich denke an Beton als scharfkantiges Baumaterial. Der Stein bildet den Kern des Übergangs, die Arbeit insgesamt ist ein Ereignis orchestrierter Widersprüche.

Als Inspirationsgeber sei der spanische Dichter und Mystiker Johannes vom Kreuz genannt, der 1591 in einem andalusischen Kloster einsam verstarb und im 17. Jahrhundert heiliggesprochen wurde. Er schreibt von der Schwelle als dem feinen Grenzbereich zwischen Sinnlichkeit und Spiritualität. Emmanuelle Rapin verbindet diese Gedanken mit der Dichtung des rumänischen Avantgardisten Ghérasim Luca (1913–1994), der vom Echo des Körpers berichtet. SEUIL ist die visuelle Umsetzung der Essenz dieser Schriften.

SEUIL ist eine minimalistische Skulptur und konkrete Poesie zugleich. Stickmuster und Faden gehören zum traditionellen Handwerkskanon der Frau während Beton und Blei männlich besetzt sind. Scheinbare Gegensätze stehen in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis.
Die Arbeit markiert einen tatsächlichen Übergang und verbildlicht gleichzeitig die Intensität menschlicher Gefühle im Dazwischen. Die Schwelle ist ein ambivalenter Ort der Lust.

Ein ähnliches Vokabular findet sich in der Arbeit La pesanteur de l’âme oder die Schwerkraft der Seele wieder. Das stählerne Senklot hängt an einer Schnur aus gehäkeltem Haar, die an einem Nagel befestigt ist. Das Haar hat etwas Unschuldiges, Argloses, obwohl es eine so beachtliche Rolle spielt. Dieses ungewöhnliche Senklot ermöglicht genauso wie sein klassisches Vorbild, das seit Menschengedenken im Baugewerbe verwendet wird, die Gewissheit der perfekten Vertikalen, die wiederum die Erdanziehung bestimmt. Ich denke aber auch an die Märchenprinzessinnen Petrosinella, Persinette oder Rapunzel, deren langes Haar als Kletterseil dient und schließlich zum Lebensglück führt.

Beide Arbeiten rufen die spiritualistische Kraft des Fadens sowie den sagenhaften Zauber langer Haare als weiblichen Habitus hervor. Hier ermöglicht der Faden die abstrakte Verbindung von Seele und Geist. Die Haarflechtung widersteht der Schwerkraft und somit der Last unseres Körpers.

Helen Adkins, August 2022