Harald Naegeli. Ungehorsam
30.04.22 - 04.06.22

Harald Naegeli; Zeichnungen

Sein Leben lang hat Harald Naegeli gezeichnet, und das in einem umfangreichen Sinne. Sein Oeuvre kennt aufwendige Blätter, die in wochenlanger Arbeit entstanden sind, ebenso wie auch kleine, kurze Bildnotate, die kaum eine Sekunde benötigen (wenn man den lebenslangen Vorlauf dazu außer acht lässt). Bekannt ist der Meister aus Zürich durch seine Graffiti, aber auch sie sind Zeichnungen im eigentlichen Sinne: Liniengebilde, deren Existenz nicht nur eine Wand als Träger voraussetzen, sondern auch einen Dialog mit ihr führen. Seine Zeichnungen zielen darauf, essentielle Umstände festzuhalten: Umrisslinien geben der physikalischen Begrenzung Kontur, Kernzeichnungen halten innere Strukturen oder Bewegungsformen fest. Selbst die auf Nötigste reduzierten Linien lassen aufscheinen, was an charakteristischen Elementen wesentlich ist, zielen auf die Essenz. Bereits die Kunst der Steinzeit, aber auch Albrecht Dürer wusste um die Magie, der Aneignung, die sich durch Zeichnungen vollziehen kann (1). Mit seinem viele tausend Blätter und zahllose Skizzenbücher umfassenden zeichnerischen Werk schafft Naegeli ein Universum aus verschiedenartigen Sujets, von Pflanzen- und Tierskizzen über Landschaften bis hin zu Bewegungsstudien oder den Volumina von Wolken. Die Meisterschaft seiner Zeichnungen besteht dabei nicht nur in der Sicherheit der Linienführung und dem Kalkül ihrer Freiräume. Auch die gelegentliche Skepsis des Lineaments, das Vortasten und nicht zuletzt das Spiel der Linie mit bewusst frei bleibenden Flächen tragen dazu bei. Nur gelegentlich und eher als Kontrast zum Primat der Linie setzt er Farbe ein. Seiner Hand kann der Meister dabei vertrauen; soweit geschult ist sie, dass er mitunter die linke Hand benutzt um diese “Schule der Geläufigkeit” (2) zu umgehen.
Zeichnungen vollziehen sich in aller Regel mit einem Bezug zu ihrem Untergrund, sowohl physikalisch als auch inhaltlich (3). Für die fragilen Gebilde, die Naegeli dem Papier mitteilt, spielt dessen Konsistenz eine tragende Rolle: saugt ein weiches Büttenpapier die Farbe ein wie bei den Tuschezeichnungen oder Radierungen, ist ein glatter Karton die Grundlage für das Liniengebilde, das sich eher auf der Oberfläche ausbreitet? Häufig spielen Naegelis Zeichnungen hier mit Elementen, die bereits ihre eigene Geschichte haben: Kartonböden zeigen Abdrücke der vorhergehenden Funktion, Ausschnitt-Reste von Passepartouts, eigens eingefärbtes Papier oder auch die beidseitige Verwendung bieten eigene Vorgaben und Korrespondenzen für das, was die Zeichnung auf ihnen vollzieht.
Man kann die Wolkenbilder Harald Naegelis als Experiment sehen: Ist es zeichnerisch möglich, die Natur einer Wolke aus diesem rätselhaften und wechselvollen Naturphänomen herauszudestillieren? Wie in seinen Partikelzeichnungen verdichten sich Punkte und Linien zu Flächen – aber eben anders als es der von ihm verehrte Wassily Kandinsky sich vorgestellt hatte (4), nicht nur als analytischer Akt des Sehens, sondern als praktische Versuchsanordnung, die letzten Endes zu einer komplexen Räumlichkeit tendiert.
Der Vergleich mit kunsthistorischen Vorbildern wie Albrecht Altdorfer, Urs Graf und vor allem den künstlerischen Helden des zwanzigsten Jahrhundert wie Wassily Kandinsky oder Paul Klee ist für Harald Naegeli immer wichtig gewesen. In seltener Intensität und Frequenz und mit einer Art kollegialer Neugier hat er deren Arbeiten studiert. Immerhin ist der Vergleich gerade hier eine besondere Herausforderung: nur wenige künstlerische Medien sind derart weiträumig und qualitativ herausragend erschlossen wie die Zeichnung. Es hier zur Augenhöhe einer bemerkenswerten Meisterschaft zu bringen: das erfordert mehr als bloß Begabung und Fleiß, konzentriertes Hinsehen und virtuoses Umsetzen. Zeichnen ist auch eine Frage der Ausdauer und Konsequenz (5),und nicht zuletzt der fortwährenden Infragestellung des bereits Erreichten. Wahrscheinlich kommt man nur so in den Sphären an, die sonst den Wolken vorbehalten sind.
Johannes Stahl, April 2022

AUSSTELLUNGSKATALOG

1. “Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.” – Albrecht Dürer, Vier Bücher von menschlicher Proportion 1528. Auch die Magie und die zahlreichen Höhlenbildern eigene Verschiebung zwischen Kontur und Farbkörper hat Harald Naegeli eine Zeitlang beschäftigt.
2. Carl Czerny: Die Schule der Geläufigkeit, eine in den 1830er Jahren erschienene Sammlung von Klavieretüden, hat Generationen von Klavierschülern beschäftigt – und nicht zuletzt wegen der Nutzung als technisch ausgerichtete und zu übende Hürde auch in anderen Künsten ein Echo gefunden.
3. “Was für die Graffiti die im Stadtraum vorgefundene Wand, das ist für die Zeichnungen auf Papier, zunächst mit zufälligen Altersspuren und Fehlstellen, dann mit den vorgegeben rauhen Noppen oder den groben Fasern des Naturchina- oder des Baumrindenpapiers.” Hein-Th. Schulze-Altcappenberg: “Wenn man sich bewegt, bewegt man mehr als sich”. Der Zeichner Harald Naegeli. In: Harald Naegeli Zeichnung, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Düsseldorf / Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1990, S. 7.
4. Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, München 1926 (Bauhausbücher Nr. 9)
5. Letztere Eigenschaft bescheinigte ihm in der Verurteilung wegen seiner Graffiti sogar ein Schweizer Bundesrichter: “Harald NAEGELI hat es verstanden, über Jahre hinweg und mit beispielloser Härte, Konsequenz und Rücksichtslosigkeit die Einwohner von Zürich zu verunsichern und ihren auf unserer Rechtsordnung beruhenden Glauben an die Unverletzlichkeit des Eigentums zu erschüttern.” Urteilsbegründung des Obergerichts Zürich vom 19.6.1981. Peter Thoss : Muß der Sprayer von Zürich ausgeliefert werden? In: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1983, S.215-225. Zitiert nach: Frankfurter Rundschau Nr. 281 vom 3.12.83, S.14 und 15.