Oliver Heicke
20.01.22 - 18.03.23

INSTABILES ETWAS – STABILES NICHTS
STABILES ETWAS – INSTABILES NICHTS
20.01.22 – 18.03.23

Oliver Heicke, das Rauschen der Landschaft
Die in der Galerie ausgestellten Werke sind die neuesten Gemälde von Oliver Heicke. Sie sind in drei Gruppen unterteilt: die Serie der drei KNITTERGITTER von 2021, die Serie der fünf GRAY von 2022 und das große DIPTYCHON ebenfalls von 2022. Zu diesem Gesamtwerk kommt als „Gastwerk“ INFANT 14 (Abb.1) von 2015 hinzu. Dieses ermöglicht es, sich den neueren Gemälden zu nähern, indem es Verbindungen zu älteren Werken herstellt. Die Entscheidung, einen der Kurzfilme des Künstlers zu präsentieren, ist Teil dieses Bestrebens, dem Betrachter relevante Schlüssel in die Hand zu geben, um in das reiche und konsequente Werk einzusteigen, das Oliver Heicke seit mehr als 40 Jahren entwickelt. Malerei, Zeichnungen, Objekte, Filme und Musik sind Heickes konstante Medien. Sie werden gemeinsam bearbeitet und beeinflussen sich gegenseitig. Diese Medien sind gleichsam „Musiker“, die der Künstler dirigiert, um die Architektur einer visuellen Oper zu formen.

Die Kurzfilme sind emblematisch für den Wechsel von einem Medium zum anderen: Sie zeigen subtile Konstruktionen und Rekonstruktionen von Fragmenten seiner malerischen, grafischen und fotografischen Werke sowie von Objekten. Die Transformation wird durch die Musik, die Heicke komponiert, erzeugt. Die Arbeit mit dem Ton ist konstant bei dem Künstler, der sein Studium mit einer musikalischen Ausbildung begann, bevor er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studierte. Seine gesamte Arbeit ist von einem gedämpften Rauschen durchzogen, das in jedem seiner Werke widerhallt. Die Nachwirkungen der von diesem Rauschen generierten Wellen, erzeugen hybride Formen, Strukturen und sich bewegende Farben. Diese zeichnen die fragile Architektur einer sich ständig wandelnden Landschaft.

INFANT 14 ist das letzte Gemälde einer Serie von 14 figurativen Porträts von Kindern, die Oliver Heicke 2004 begonnen hat. Diese Porträts mit dem gleichen Format von 56 x 80 cm sind alle auf Holzplatten gearbeitet. Die Technik übernimmt mit zeitgenössischen Mitteln die der alten Meister. Eine Grundierung auf Kunstharzbasis und eine Untermalung in Acryl tragen die mit Ölfarbe aufgetragenen Lasuren. Die Gemälde stellen die Kinder systematisch in Dreiviertel-Pose dar. Ihr Blick ist nach rechts oder links gerichtet, nie schauen sie frontal. INFANT 14 entspricht dieser Komposition und kündigt gleichzeitig eine Entfaltung in einen anderen Bildraum an.

Ein kleines Mädchen nimmt den Vordergrund des Bildes ein, es bewegt sich « en avant ». Sie ist mit einem blauen Oberteil bekleidet, das den Raum des Bildes teilt. Der untere Teil, der dem Unterkörper entspricht, zeichnet ihre Beine und ihren Ballerina-Rock nach. Der obere Teil des Bildes entspricht dem Gesicht und dem linken blauen Arm. Dieser verläuft horizontal nach hinten und zeigt den Hintergrund an. Der Blick des Kindes lenkt den Blick des Betrachters nach links in ein « hors-champ » des Gemäldes.
Diese Blickrichtung geht einher mit der gleichen Bewegungsrichtung des Beins des Mädchens. Das strahlend rosafarbene Bein bewegt sich auf den Betrachter zu und die Spitze des Fußes, die unten links abgeschnitten ist, fällt aus dem Rahmen. Ihr rechtes Bein hingegen ist nach hinten gerichtet und lädt dazu ein, in eine zweite Ebene des Bildes einzutreten. Dort ist ein weiterer Körper zu sehen, der in einen flüchtigen, weiß-grauen Tüllrock gehüllt ist. Ist dies die Erinnerung an die Bewegung, die dem Kind vorausging, oder ist es sein geisterhaftes Double, das durch den grauen Hintergrund des Gemäldes erzeugt wird?
Die Behandlung des Rocks durch die Überlagerung von dünnen, leicht aufgetragenen Farbschichten bewirkt seine Auflösung in den geometrischen Flächen des Hintergrunds. Diese sehr farbigen Formen, die von orangeroten, gelben bis hin zu leuchtenden zarten Grüntönen reichen, stellen eine Bühnendekoration dar. Das Ganze schwankt zwischen urbanen Strukturen und einer Berglandschaft. Das Kind ist, wie die geometrischen Formen, auf einem ersten, stark bearbeiteten grauen Hintergrund platziert, der in der Höhe von einem horizontalen weißen Streifen durchschnitten wird. Dieser Streifen deutet auf einen weiteren Hintergrund hin: die unsichtbaren Kulissen des Bildes.

Die Stoffe werden mit verschiedenen transparenten Schichten bearbeitet, die Pinselstriche überlagern sich vertikal und horizontal in Streifen, die dem Körper Bewegung und Leuchtkraft verleihen. Ein Regen aus kleinen farbigen Pinselstrichen kommt aus dem blauen Kleidungsstück des Mädchens. Diese Tropfen verteilen sich in einer Bewegung, die der des nach vorne in die Arabesque tretenden Körpers entgegengesetzt ist. Dadurch wird eine Spannung spürbar, als würden zwei entgegengesetzte Winde durch das Werk wehen.
Das Thema des Gemäldes erinnert an die kleinen Tänzerinnen von Edgar Degas (1834-1917), wie Oliver Heicke sagt, und der Titel des Werkes stellt es in die klassische Tradition der Kinderporträts, die für königliche Familien ausgeführt wurden. Es ist ein Echo auf die zahlreichen Porträts der Infantin Marguerite, die Diego Velasquez (1599-1660) malte.
Das Kind, das « Infans », was « der nicht spricht » bedeutet, wurde in der Malerei lange Zeit kaum dargestellt, da es als ein Zwischenwesen zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten angesehen wurde, welches permanent in Gefahr war, dorthin zurückzukehren, wo es herkam. So findet in diesem Werk eine stille Bewegung des Übergangs von einer Welt in eine andere statt. Ein Rauschen entströmt diesem Gemälde. Es wird durch die leichte Reibung des Tülls des Mädchens beim Kontakt mit dem grauen Hintergrund ausgelöst. Dieses Rauschen, das aus den subtilen Kollisionen zwischen dem Hintergrund und den Formen auf der Leinwandoberfläche entsteht, zieht sich durch alle Werke von Oliver Heicke.

INFANT 14 ist eines der Schlüsselgemälde in der Entwicklung der Arbeit des Künstlers. Es führt zum Verständnis des ständigen Wandels, der sich von einem Medium zum anderen vollzieht. Es beleuchtet das Schwanken zwischen organischen und architektonischen Formen, zwischen figurativen und abstrakten Entscheidungen des Malers. Sie zeigt uns die vielfältigen Variationen der visuellen und akustischen Bewegungen, die Heickes Schöpfungen antreiben.
In der Tat bekräftigt INFANT 14 die graublauen Hintergründe, die nunmehr charakteristisch für die hier gezeigten Gemälde sind. Sie bestätigt den Übergang zur Komposition von Räumen mit vielfältigen Tiefen und die Metamorphosen der figurativen Elemente. Der INFANT, der aus dem Bild geschwenkt wird, löst seinen Körper in der flächigen Landschaft im Hintergrund auf und verlässt die Bühne. Mit einer Reverenz lädt er zum Eintritt in einen neuen Raum ein.

So liest sich das Werk MERGENCE OF PARALLEL UNIVERSES aus dem Jahr 2019 sowohl als Manifest des Umschwungs in diesen neuen Raum als auch als Emanation von INFANT 14. Dieses Gemälde mit seiner ausgeprägten Vertikalität ist in eine Abfolge mehrerer Ebenen unterteilt, wie die Bühne eines Theaters mit seinem Bühnenbild, seinen Kulissen. Unten erkennt man eine puristische Berglandschaft. Die kalten und hellen Töne der Palette, die aus Variationen von Blau und Wassergrün besteht, und die glatte Textur bekräftigen die unbewegliche Sanftheit einer konventionellen Landschaft. Der obere Teil ist eine Art umgekehrtes Duplikat des Berges. Ein Regen aus farbigen Pinselstrichen, die bereits aus dem Gewand von INFANT 14 flossen, verleiht der Komposition einen Rhythmus und schafft gleichzeitig Tiefe. Der Übergang zu diesem « Parallelberg », den der Titel bezeichnet, erfolgt durch die Kollision von abstrakten und figurativen Elementen, durch die Auflösung von organischen und architektonischen Formen. Dieses Gesamtbild ist vor einem Hintergrund gemalt, der aus dunklen, rieselnden Pinselstrichen besteht, die sich ausbreiten und die Falten eines geschlossenen Vorhangs bilden.

Die KNITTERGITTER und GRAY verstärken diese orchestrierte Drift von Formen und Farben im Raum mit mehr Schlichtheit.
Tiefe und Perspektive werden durch die den verschiedenen Ebenen zugeordneten Farben konstruiert. Der graublaue Hintergrund erobert die gesamte Leinwand. Manchmal bewegt er sich vorwärts, manchmal entfernt er sich und erzeugt so einen regelmäßigen visuellen und akustischen Pulsschlag. Dieser Hintergrund wird zu einer formbildenden Matrix, wie Oliver Heicke erklärt:
« Das Hintergrundgrau der Bilder entsteht nur durch Mischung von Farben, die nachher auch für den Vordergrund verwendet werden »
Die Gestaltung der Hintergründe, die in mehreren Schichten bearbeitet wurden, ist extrem glatt, transparent und leuchtend. Elemente unterschiedlicher Art heben sich ab.

So sind die Gitter ein Geflecht aus einer komplexen Überblendung von feinen, transparenten Pinselstrichen. Sie entstehen auf der Oberfläche des Hintergrunds durch Überlagerungen von Grau, Weiß und dann durch Überlagerungen von dunkleren Farben. Die Gitter, Rinnsale, Tropfenspritzer und verdünnten Formen werden zu Spuren einer Landschaft, Überresten von Architektur, Teilen städtischer Konstruktionen, die vom Hintergrund angesaugt und dann wieder abgestoßen wurden.
Eine Landschaft vollendet und vernichtet sich in dem Traum eines imaginären und melomanischen Architekten.

Emmanuelle Rapin, 2023.